Posted by andreas from dtm2-t8-2.mcbone.net (62.104.210.95) on Friday, December 27, 2002 at 7:05AM :
Don't be shocked:
There is life beyond English ...
Article on Mardin in Tur Abdin.
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27. Dezember 2002, 08:35,
Neue Zürcher Zeitung
Schauplatz Türkei
Wie viele Stufen sind's zum Himmel?
Mardin, Hochburg am «Berg der Gottesknechte»
Im Südosten der Türkei haben sich seit dem vierten Jahrhundert syrisch-orthodoxe Christen niedergelassen; als imposantes Baudenkmal zeugt insbesondere die Stadt Mardin von ihrer Präsenz. Seit dem Zypernkrieg sind die Gemeinden unter dem Druck der politischen Verhältnisse stark zusammengeschmolzen.
Wenn er könnte, würde der dreizehnjährige Murat jetzt die Stirn in Falten legen. Über so viel Unkenntnis kann man sich nur wundern! Eben hat sein Freund Simon den Gästen aus Istanbul das Portal der Kirche der Vierzig Märtyrer aufgeschlossen und sie bis an den Altar geführt. Das wollen Christen sein - und wissen nicht, dass alle Gläubigen nach der Zahl der Erzengel in neun Klassen aufgeteilt sind. Er selbst, Murat, steht auf der dritten Stufe. Auf der neunten und höchsten befindet sich der Patriarch, danach kommen die Bischöfe, Metropoliten genannt, dann die Mönche, die Priester, die Diakone und schliesslich die Laien, ihrer Bildung und Frömmigkeit gemäss.
Kein Wunder, dass Murat so belesen ist, denn er lebt in Mardin, im Südosten der Türkei, keine zwanzig Kilometer von der syrischen Grenze. Zusammen mit dem Städtchen Midyat ist Mardin das Zentrum des Tur Abdin, des Bergs der Gottesknechte, wie die syrisch-orthodoxen Christen der Türkei die Landschaft nennen. Ihre Bibel, die Katechismen und geistlichen Lieder sind in Aramäisch verfasst - der semitischen Sprache des Grossreichs, das seine Blüte um tausend vor Christus hatte, mit Damaskus als Hauptstadt.
Einmaliges Stadtbild
Seit zwei Jahren ist es nichts Besonderes mehr, wenn Fremde in den Kirchhof kommen. Eine kostbare Normalität - bedenkt man, dass Mardin und die Region fünfzehn Jahre lang Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der kurdischen PKK und staatlichen Antiterroreinheiten war. Eine trügerische Normalität auch, denn noch bewegt sich jeder Unterricht, der in einer anderen Sprache als Türkisch gehalten wird, juristisch in der Grauzone. Auch ein Recht auf die Erteilung von Religionsunterricht haben die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei nicht. Anders als die griechisch-orthodoxe Kirche, die armenische Kirche und die jüdische Gemeinde sind sie keine anerkannte religiöse Minderheit. Zwei Generationen lang mussten sie ihre Unterweisung deshalb im Verborgenen abhalten.
Doch seit zwei Jahren bessert sich die Lage, langsam, aber stetig. Der Gouverneur von Mardin wirbt in seinen Broschüren heute mit der religiösen Vielfalt seiner Stadt, in der einst muslimische Türken, Kurden und Araber zusammen mit Juden, Jesiden, armenischen und syrisch-orthodoxen Christen lebten. Die Zeugnisse aus dieser Zeit rechtfertigen den Antrag Mardins auf Aufnahme in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes. Es sind weniger einzelne Bauwerke wie die Sultan-Isa-Medrese hoch über der Stadt, die Grosse Moschee, der zentrale Basar oder einzelne der insgesamt acht Kirchen, die Mardin einzigartig machen. Es ist das geschlossene Bild der am Hang des Tur Abdin gelegenen Siedlung, die erstmals im vierten Jahrhundert vom byzantinischen Historiker Ammianus Marcellinus erwähnt wird, ihre eigentliche städtebauliche Prägung aber vom 12. bis zum 16. Jahrhundert erfuhr.
In der Kirche der Vierzig Märtyrer ist es angenehm kühl, doch draussen brennt die Sonne, als wolle sie die kunstreich behauenen Steine des Portals zum Bersten bringen. Es scheint, als habe ihre Glut die Bewohner dazu bewogen, die Gassen, die sich ohne jede erkennbare Ordnung den Berg auf und ab und quer durch die Stadt ziehen, so eng anzulegen, dass sie zu jeder Tageszeit Schatten spenden. Schutz vor der Sonne ist auch der Grund dafür, dass alle Gebäude aus Stein errichtet worden sind. Wie eine riesige Treppe klettern die Häuser den Berg empor. Ein einziges bronzenes Gitterwerk ineinander geschachtelter und übereinander gesetzter Fassaden, hohe Torbögen, Stalaktitenportale, mit Pflanzenornamenten geschmückte Fensterstöcke und Laubengänge. Dazwischen Kirchtürme und arabische Minarette, weit vorstehende Erker und Kuppeln, alles aus dem gleichen ockerfarbenen Stein und alles in handwerklicher Vollendung.
Mardins originärer Stil entstand zu Beginn des zwölften Jahrhunderts unter der Herrschaft der muslimischen Ortokiden. Trotz wechselnden Machthabern wurde die damals entstandene Formensprache auch späterhin beibehalten und prägte die Bauweise der Moscheen und der Kirchen, der Klöster und der grossen Patrizierhäuser. Die Synthese aus islamischer und byzantinischer Architektur mit stark regionaler Prägung gelangte im 16. Jahrhundert zu ihrer reifsten Form, und noch im 19. Jahrhundert war sie das architektonische Mass schlechthin.
In Mardin entstanden auch die ersten Külliyes von Anatolien: Moscheekomplexe mit Medrese, Bibliothek, Armenküche und Lazarett. Die Külliye verbreitete sich bald über ganz Anatolien, Mardins Baustil jedoch nicht. Aus zwei Gründen blieb er auf die Stadt und ihre nähere Umgebung beschränkt: des Steins und der Steinmetzen wegen. Denn Steinmetzkunst war Christenarbeit, und der Stein kommt aus - dem ebenfalls christlich geprägten - Midyat, sechzig Kilometer östlich von Mardin gelegen. In Mardin waren die Christen bereits im 18. Jahrhundert in die Minderheit geraten; in Midyat dagegen stellten die Süryani, wie sich die syrischen Christen selber nennen, in der letzten Generation noch eine Mehrheit. Von den 30 000 Einwohnern der Stadt war um 1965 nur jeder vierte Muslim. In den letzten zwanzig Jahren jedoch sind die Christen in Scharen ausgewandert, und ihre Gemeinde ist auf knapp hundert Familien zusammengeschmolzen.
Die verbliebenen Christen Midyats zu finden, ist nicht schwer. Man muss sich nur für einen der zahlreichen Silberschmiede entscheiden, deren Läden die Hauptstrasse säumen, sie sind alle Süryani. Photographien der umliegenden Klöster oder der syrische Kirchenkalender an der Wand beseitigen den letzten Zweifel. Wer Interesse am Schicksal der Gemeinde zeigt, ist schnell wichtiger als jeder Kunde.
Gabriel Akman räumt denn auch sofort die feinen Silberfiligranarbeiten beiseite, die Armreife, Ohrringe und Colliers, welche die Midyater Silberschmiede im gesamten Nahen Osten berühmt gemacht haben. Er ist 26, und noch vor vier Jahren hatte auch er sich ernsthaft überlegt, seine Heimat zu verlassen. Grund war der Wehrdienst in der türkischen Armee. Die Vätergeneration hatte während des Militärdienstes Schikanen und Erniedrigungen erlebt. Als dann die Aktionen der PKK begannen und auch auf türkischer Seite der Nationalismus ins Kraut schoss, wichen Hunderte von christlichen Jugendlichen dem Druck durch Emigration nach Europa aus. Im Juli 1999 wurde 277 christlichen Jugendlichen aus dem Tur Abdin wegen Fahnenflucht die Staatsbürgerschaft entzogen. «Ich war damals einer der Ersten, die trotz grosser Furcht zur Armee gegangen sind», sagt Gabriel, «und ich bin froh, dass ich den Schritt getan habe.» Natürlich hätten ihn die Kameraden öfters gedrängt, doch Muslim zu werden. Doch wirklichen Druck habe es nicht gegeben. «Nach unserer Erfahrung war der Bann gebrochen», sagt Gabriel, «jetzt leisten wieder mehr von uns den Militärdienst ab, und die Auswanderung hat nachgelassen.»
Verdorbene Atmosphäre
In Midyat liegt am Ende der Hauptstrasse die Kirche Mar Semun, eine der drei syrisch-orthodoxen Kirchen, in denen noch regelmässig Gottesdienst gefeiert wird. Diakon Samuel Göktas hat Besuch aus Schweden. Eine Gruppe von drei Familien ist nach Jahren zum ersten Mal zurückgekommen, um Eltern und Verwandte zu besuchen. Warum sind sie gegangen? «Unsere Eltern und auch wir haben lange mit den Muslimen in Frieden gelebt», sagt Ibrahim Akyüz, der heute als Lehrer für Aramäisch in Göteborg arbeitet, und holt tief Luft. «Die Atmosphäre verdorben hat 1955 die Zypernkrise. Als damals im September in Istanbul der Mob die Geschäfte der griechischen Christen plünderte, dachten einige Fanatiker in Midyat ‹Christ ist gleich Christ› und bedrohten die Süryani.»
Unerträglich wurde die Lage jedoch erst in den achtziger und neunziger Jahren. Die Christen des Tur Abdin gerieten zwischen die Fronten der PKK und der vom türkischen Staat angeworbenen Dorfschützer. «Mit Drohungen versuchte die PKK, unsere Jungen in ihre Reihen zu pressen, und der Staat wollte unbedingt, dass wir uns als Dorfschützer verpflichten und bewaffnen lassen», erinnert sich Ibrahim Akyüz. Inzwischen finden sich wieder Kinder zum Lernen auf dem Hof der Kirche Mar Semun ein. «Es ist viel besser geworden», sagt auch der Fahrer, der die Gäste von dort zum Kloster Mar Gabriel bringt: «Gebe Gott, dass es so bleibt.» Er hofft, dass in Zukunft die eine oder andere süryanische Familie aus Europa wieder zurückfindet in den Tur Abdin.
Günter Seufert
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